In Deutschland (aber nicht nur hier) gibt es ein manifestes Problem mit Antisemitismus. Das hat sich nicht gelöst, bloß weil der Musikpreis Echo stellvertretend ins Schwert gegangen ist. Im Folgenden sollen einige Überlegungen geteilt werden, die v.a. als Anstoß zur Debatte zu verstehen sind. Sie sind weder vollständig noch geben sie vor, fertige Lösungen anbieten zu können.
Seit etlichen Jahren machen Betroffene, Wissenschaftler_innen (z.B. Wetzel, Schwarz-Friesel, Mitte-Studie) und Journalist_innen (z.B. hier, hier oder hier) auf die Prävalenz antisemitischer Einstellungen in der deutschen Gesellschaft aufmerksam. Allen Zahlen zum Trotz, dass rund 40% der Deutschen Jüdinnen und Juden latent feindselig gegenüber stehen, wird das Problem gern auf gesellschaftliche Ränder ausgelagert: die extreme Rechte, Verschwörungstheoretiker_innen, Muslim_innen, Literaturnobelpreisträger, Battle-Rapper. Antisemit_in, das möchte heute keine_r mehr sein!
Der Begriff „Antisemitismus“, von dem Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn als „negative Leitidee der Moderne“ beschrieben (Samuel Salzborn 2009), kam zuerst im Kaiserreich um 1880 auf und eine organisierte antisemitische Bewegung entwickelte sich rasch. Die aufgeklärten Judenfeinde wollten den vormodernen christlichen Antijudaismus, der die deutsche und europäische Geschichte seit Jahrhunderten entscheidend mitgeprägt hatte, die jüdische Bevölkerung ausgeschlossen, marginalisiert und regelmäßigen Pogromen preisgegeben hatte, hinter sich lassen, der jüdischen Emanzipation aber trotzdem etwas Substantielles entgegensetzen. In den zunehmend rationalistisch-verwissenschaftlichten und nationalistischen Diskursen ihrer Zeit fanden sie mit ihrer Betonung grundsätzlicher kultureller und auch rassischer Unterschiedlichkeit (die vorerst noch nicht den eliminatorischen Charakter der NS-Rasseideologie antizipierte) zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden viele Anhänger_innen. Etwa zur gleichen Zeit und in Reaktion auf antijüdische Gewalt in Osteuropa und antisemitische Mobilmachung in Mittel- und Westeuropa entwickelten jüdische Aktivisten (Leo Pinsker, Theodor Herzl) Ideen eines eigenen jüdischen Territoriums als Zufluchtsort für Bedrängte. Erst nach der Jahrhundertwende einigte sich die Zionistische Bewegung nach internen Auseinandersetzungen darauf, dass dieses Gebiet im damals zum Osmanischen Reich gehörenden Palästina liegen sollte. In diesem kurzen historischen Abriss sind drei Kernmomente gegenwärtiger antisemitischer Rhetorik aufgeblitzt, die in Abwandlungen immer noch Verbreitung finden. Wenn auch deutlich seltener, werden auch heute noch Jüdinnen und Juden für den Tod Christi verantwortlich gemacht, nach mittelalterlicher Mär als „Kindermörder“ und Brunnenvergifter denunziert (heute sollen aber nicht mehr europäische Christ_innen, sondern Palästinenser_innen betroffen sein). Auch die um die Jahrhundertwende vom zaristischen Geheimdienst lancierte antisemitische Propagandaschrift „Protokolle der Weisen von Zion“ findet heute in vielen arabischen Ländern und unter NWO-Verschwörungstheoretiker_innen noch ihre Rezipient_innen. Die darin angelegte Behauptung, dass Jüdinnen und Juden (bzw. Israel) politisch und ökonomisch weltweit die Fäden zögen findet unter Rechten, etlichen Linken und religiös Verhetzten Verbreitung. Auch im Netz sind derlei basale und betont unterkomplexe Angebote der Welterklärung verbreitet – und beliebt. Mit Juden*hass haben sie selbstverständlich nichts gemein.
(Bsp. für antisemitische Postings auf Facebook)
Mit Israel, dem „Juden in der Staatengemeinschaft“ (Georg Kreis 2005), hat das antijüdische Ressentiment seit 1948 ein Objekt gewonnen und neue Allianzen befördert. War die bundesdeutsche Linke bis 1967 noch um Aussöhnung mit Israel als Stellvertreterin der Davongekommenen bemüht, so kippte diese philosemitsiche Grundhaltung mit dem Sechs-Tage-Krieg zugunsten der palästinensischen „Kolonisierten“ – linke Wortführer_innen wie Ulrike Meinhof und Dieter Kunzelmann postulierten eine deutsche Verantwortung und ließen ihren antiimperialistischen Traktaten gegen die Nazis von heute (so sinngemäß in der Schrift „Schalom + Napalm“) u.a. Sprengsätze in jüdischen Einrichtungen folgen. Palästinensische Terrorist_innen, von Ulrike Meinhof nach dem Olympia-Attentat 1972 mit dem Prädikat „antifaschistisch“ versehen, waren ideologisch stets weniger festgefahren als ihre linken Unterstützer_innen im Westen – wenn es gegen Israel ging, wurde auch mit Mitgliedern der Wehrsportgruppe Hoffmann kooperiert. Heute ist die israelbezogene Juden*feindschaft die verbreitetste. Sie eint Linke, Rechte, Friedensfreund_innen, Muslim_innen und bricht sich regelmäßig gewaltvoll Bahn, wie zuletzt in Berlin. Nicht selten korellieren diese Übergriffe mit Ereignissen im Nahen Osten. In der jüngsten Vergangenheit hatten deutsche Gerichte allerdings Schwierigkeiten, antijüdische Anschläge in Deutschland als das zu benennen was sie sind, was in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung jene stärkt, deren „Israelkritik“ auf Vernichtung aus ist.
(auf Facebook geteiltes Meme, das den antisemitischen Angriff am Berliner Helmholtzplatz thematisiert)
(Toxic Masculinity aktuell: die Palästina– und Frauenfreunde Felix Blume und Farid El Abdellaoui. Mit den von ihnen verbreiteten Ideologemen haben sie den Echo-Musikpreis zerlegt, ganz ohne Muskeleinsatz. Foto: faridbangbang)
Die Virulenz der Verwendung von „Jude“ als Schimpfwort, die Popularität von antisemitischen Anabolika-Rappern wie Kollegah und Farid Bang (die ebenfalls rassistische, sexistische, homphobe und verschwörungstheoretische Inhalte verbreiten) und zunehmend in der Öffentichkeit diskutierte Angriffe auf Jüdinnen und Juden haben das Thema „Antisemitismus“ in den letzten Monaten in die Kommentarspalten gespült. Nicht selten wird die Thematisierung antisemitischer Gewalt dort als Vorwand genutzt, um gegen Israel zu hetzen und mit Whataboutisms wichtige Debatten zu stören. Das reflexhafte Einwerfen von „Aber Israel…“ verweist auf die Nähe von antizionistischer und antisemitischer Rhetorik. Nicht jede Kritik an israelischer Regierungspolitik ist antisemitisch motiviert – auch Israelis und Jüdinnen und Juden in der Diaspora üben regelmäßig Kritik. Historisch waren Zionist_innen lange Zeit eine Minderheit innerhalb der jüdischen Community – diverese antizionistische Positionen wussten bis zum nationalsozialistischen Zivilisationsbruch über Jahrzehnte eine Mehrheit hinter sich und auch heute noch bezeichnen zahlreiche Jüdinnen und Juden sich als Antizionist_innen. Sie alle des jüdischen Antisemitismus / Selbsthass zu bezichtigen wäre infam. Zugleich wird der Antizionismus aber gerade in der Linken immer wieder als Loyalitätstest genutzt, besonders für Jüdinnen und Juden. Wann aber wird Kritik an israelischer Politik antisemitisch? Natan Scharanski hat 2003 den 3D-Test entwickelt, der sicherlich keine wissenschaftlich unterfütterten Ergebnisse produziert, für die alltägliche Dechiffrierung antisemitischer Gehalte aber durchaus tauglich ist: Wird Israel dämonisiert? Wird Israel an Doppelstandards gemessen, mit denen andere Nationen nicht konfrontiert werden? Wird Israel delegitimiert, d.h. wird sein Existenzrecht abgesprochen? Lassen sich diese Punkte mit ja beantworten, so liegt nach Scharanski Antisemitismus vor.
Wie aber dem entgegentreten? Mit Bundesbeauftragten? Mit Hashtag und Kippa? Mit der Einstampfung eines nun besudelten Industriepreises? Wohl eher nicht. In der aktuellen Debatte wird – der Einfachheit und Bequemlichkeit halber – der grassierende Antisemitismus vor allem muslimischen Migrant_innen (und mit Verweis auf die BKA-Statistiken Rechtsextremen) angelastet. Diese Exkulpation der deutschen Mehrheitsgesellschaft greift aber zu kurz. Sie vergisst, dass der arabische Judenhass über Jahrzehnte europäische und deutsche Versatzstücke in sein Narrativ einpflegte und dass auch unter den autochthonen Antisemitismus nach 1945 nie ein Schlussstrich gezogen wurde. Die Mobilisierung eines anti-antisemitischen Diskurses zugunsten der Durchsetzung xenophober und rassistischer Politik ist ebenso kritisch zu befragen wie antisemitische Apologet_innen. Offen und kodiert antisemitischen Äußerungen ist wachsam zu begegnen, Jugendliche müssen befähigt werden, antisemitische Inhalte zu erkennen und mithilfe von Konterstrategien und vor allem fundierter historischer Bildung diesen Erzählungen entgegen zu treten – ohne marginalisierte Gruppen gegeneinander auszuspielen. Es stimmt, Antisemitismus sollte in „unserer“ Gesellschaft keinen Raum bekommen – doch wer es mit der Bekämpfung des Hasses gegen Jüdinnen und Juden erst meint, der darf das Problem nicht – via Abschiebungen – auslagern, sondern muss es endlich inhaltlich bearbeiten. Auch und gerade dort, wo es weh tut.